Predigt von Pater Ante Vučković OFM beim „Mladifest“ am 2. August 2018 in Medjugorje

Datum: 03.08.2018.

„Blickt auf zu ihm, so wird euer Gesicht leuchten und ihr braucht nicht zu erröten.“, heißt im Psalm 34 von König David.

Es ist sehr ungewöhnlich, dass der kurze Satz aus dem sehr langen Lied Davids alles aussagt, wer Gott ist und welche Taten er vollbringt. Wir können das hier in Medjugorje erfahren, da dieser Ort stark von der Anwesenheit der Muttergottes geprägt ist. Die Gospa war in ihrem Leben vielen verschiedenen Gefühlen ausgesetzt - der Trauer, der Freude, des Leids, der Aufregung. Doch eine Art von Gefühl hatte sie nie: das Gefühl der Scham und Schande. Solche Emotionen haben auch die Engel nicht, und das ist ersichtlich in diesem Vers: „Blickt auf zu ihm, so wird euer Gesicht leuchten und ihr braucht nicht zu erröten.“ (Ps 34,6)  

Da die Muttergottes und die Engel in Gottes Angesicht schauen, sind sie von diesen menschlichen Gefühlen der Schande und der Scham geschützt, von Emotionen, die uns die Schamröte ins Gesicht treiben oder den Wunsch hervorrufen, am liebsten in den Erdboden zu versinken. Doch David war nicht ohne Schande und Scham wie die Gottesmutter, denn er hatte Dinge getan, die er später bereute und wegen derer er weinte. Und trotzdem wusste er sich in Gottes Nähe, und durch die Gabe, die ihm geschenkt worden war, hinterließ er den nachfolgenden Generationen die Psalmen, sodass durch sie alle, die auf Gott schauen, vor Freude und ohne Schande erstrahlen. Der menschliche Blick macht uns verlegen oder beschämt. Für uns ist es leichter, unsere Verfehlungen und Sünden zu ertragen, wenn wir dabei nicht beobachtet werden. Aber wenn wir ertappt werden, vor allem von einer Person, die uns viel bedeutet, dann erfüllt uns das mit großer Scham. Das ist etwas, was die Menschen seit jeher verfolgt.

Wenn wir nun 2500 Jahre zurückgehen und uns in der „Politea“ von Platon wiederfinden, werden wir einem Mythos begegnen, der das gleiche ausdrückt: dem Mythos vom sogenannten „Ring des Gyges“. Er handelt von einem Hirten, der nach einem Erdbeben plötzlich vor einem Erdloch steht, hinabsteigt und viele Wunder sieht und dort ein Skelett mit einem Ring entdeckt. Er nimmt diesen Ring, steckt ihn an den Finger, nicht wissend, um was es sich da handelt. Und als er später mit seinen Hirtenfreunden beisammen sitzt und den Ring dreht, wird er unsichtbar; aber seine Freunde setzen das Gespräch fort, so als ob er nicht da wäre. Und als er den Ring wieder zurückdreht, wird er wieder sichtbar. Dieser Mythos von Platon dient dazu, um zu hinterfragen, was für Menschen wir sind, ob wir von Natur aus Menschen sind, die gerecht sein wollen oder ob wir nur deswegen so handeln, weil uns die anderen dabei sehen. Platon will durch dieses Ring-Experiment folgendes sagen: Stellt euch einen gerechten und einen ungerechten Mann vor, und gebt beiden diesen Ring. Der ungerechte Mann wird es kaum erwarten können, sich unsichtbar zu machen, um sich das zu nehmen, was er braucht oder um in ein beliebiges Zimmer zu gehen und unbemerkt zu beobachten, was andere Menschen tun. Denn er kann alles machen, ohne die Konsequenzen für sein Handeln tragen zu müssen. Und der gerechte Mann wird sicherlich auch nicht gerecht bleiben. Denn er hat endlich die Gelegenheit bekommen, sich verstecken zu können und es ist fast unmöglich, dass er gerecht bleibt.

So ist es bei uns Menschen. Wegen der Blicke anderer sündigen wir nicht oder hüten uns davor, ungerecht zu sein. Würden andere uns jedoch nicht sehen, so wären wir so ungerecht wie sie alle. Platons Geschichte wurde vor langer Zeit erzählt, sie ist ein Mythos. David jedoch weiß es besser: Wer auf IHN blickt, wird sich freuen und keine Scham verspüren. Wir alle glauben, dass wir, wenn wir einmal vor Gottes Angesicht stehen, Scham fühlen werden, weil wir uns all dessen bewusst werden, was in seinen Augen nicht gut war. Seht doch, wie weise David war - ihr sollt in Gottes Angesicht schauen, nicht, um Scham zu empfinden, sondern um vor dem Schamgefühl geschützt zu sein. Das ist es auch, was Gott tut. Aber wie können wir das wissen? Wir wissen es, weil es Jesus so getan hat. In der Nacht, als Jesus festgenommen wurde, fragte man Petrus, ob er sein Anhänger sei und er schämte sich seines Lehrers und sagte: „Nein!“ Sogar drei Mal leugnete er es. Die Nacht ging vorbei, der neue Tag brach an, und als man Jesus wieder ins Freie brachte, erblickte er Petrus, und dieser wusste in diesem Augenblick wieder, was Jesus ihm an jenem Abend gesagte hatte und was er angestellt hatte. Und Petrus fing bitterlich an zu weinen. Was hat Petrus gesehen, als sein Blick den von Jesus traf, in dem keiner von beiden ein Wort ausgesprochen hatte, sondern sich nur ihre Blicke aus der Ferne trafen? Hätte Petrus einen Blick gesehen, der ihn verurteilte, er hätte es nicht ertragen können. Aber er begegnete einem Blick, der ihn vor einer Selbstverurteilung schützte und ihm half, seinen Verrat von Jesus zu verkraften und sich selbst nicht zu schaden. Und das ist es, was Gott tut. Du schaust in sein Angesicht und deine eigene Bosheit wird dir keine Scham bereiten, sondern es wir dir eine Chance zur Reue gegeben, um dieses Schamgefühl zu überwinden.

Am Abend, in einem anderen Stadtteil, war Jesus von einem anderen Schüler verraten worden, doch als er sah, was er angestellt hatte, bereute dieser seine Tat und wollte das Geld zurückgeben. Wenn wir im katholischen Katechismus nachlesen, was nötig ist, um eine gute Beichte abzulegen, dann hat Judas alle Bedingungen dafür erfüllt: Er hat seine Schuld zugegeben, wollte den Schaden wieder gutmachen und das zurückgeben, was er für seinen Verrat als Belohnung erhalten hatte. Und trotzdem wurde er nicht gerettet; er endete im Selbstmord. Warum, was hat ihm gefehlt? Er hat anders als Petrus gehandelt. Er hat nicht den Blick Jesu gesucht, der ihn vor der Selbstverurteilung befreit hätte. Er ist allein geblieben. Nichts ist schlimmer als die Selbstverachtung. Aber vor dieser Selbstverachtung rettet uns Jesu Blick. Wenn du allein bleibst mit deinem Verrat, deiner Scham, dann verfällst du in Selbstverurteilung und keiner kann so hart zu dir sein wie du selbst. Von dir selbst musst du dich befreien. Das ist es auch, was Paulus in seinem Brief an die Galater sagt: Wir waren Sklaven von Anbeginn der Welt, Sklaven unserer Gefühle, aber er ist gekommen und hat uns befreit und wir waren nicht länger Sklaven, sondern freie Menschen. Er ist gekommen und hat unsere Schuld auf sich genommen. Das hat auch Johannes der Täufer gesehen, als er ihn am Jordan das erste Mal erblickte: „Seht das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünde der Welt.“ - nicht einer, der dir die Schuld auftragen möchte, sondern der sie dir wegnimmt, weil er dich im Himmelreich haben will. Der Hl. Franziskus sagt, er möchte dich vom Joch befreien, weil er dich in die Freiheit führen will. Denn nur in Freiheit kannst du das Himmelreich betreten. Eine Gotteserfahrung zu machen bedeutet zu entdecken, was Freiheit ist. Niemand sonst kann sie uns schenken. Denn die „Welt“ macht genau das Gegenteil, sie weiß genau, wie man Menschen zum Schweigen bringt und sie zu Gefangenen macht. Es genügt, wenn ein peinlicher Artikel über uns in einer Zeitung veröffentlicht wird, und schon sind wir verstümmelt und gefangen.

Deshalb wissen wir, dass David recht hat: Schaut auf zu ihm und freut euch, damit ihr euch nicht schämt.

Möge Gott uns an diesem Ort in den  nächsten Tagen unsere geistlichen Augen öffnen, dass wir seinem Blick begegnen und dass wir nach Hause zurückkehren ohne Joch, in Freiheit, ohne Scham und mit fröhlichem Gesicht. Amen.